Helmut Brandt



"Das Hervorgehen in die erscheinende Anwesenheit ist einem Sichverbergen zugetan."
Heraklit, Fragment 123
Das Echo unter der Oberfläche - zu den Bildern von Helmut Brandt
von Manfred Köhler

Flächen verschließen, versiegeln, schützen. Sie trennen ein Inneres von einem Außen. Ihr Ideal ist Glätte und Reinheit. Der Traum der unberührten Fläche. Abweisend.
Doch es gibt sie nicht, die unberührte glatte Fläche. Von ihrem Material her ist sie porös und rau, und sie ist rissig und brüchig, weil sich die Zeit immer schon in sie eingeschrieben hat.
Die Oberfläche ist das Andere zur Tiefe, sie ist der Schein, der das Wesen verbirgt. Man muß sie durchbrechen, durchstoßen, um die Wahrheit zu enthüllen.
Oder aber die Oberfläche reflektiert die Tiefe, verbirgt und enthüllt sie ineins. Sie ist das Echo dessen, was unter ihr liegt.
Helmut Brandt sieht die Tiefe in der Oberfläche. Es gibt Schichtungen von Oberflächen. Wenn es eine Tiefe gibt, dann ist sie ein Effekt der Oberfläche.
Die Bilder von Helmut Brandt sind ungegenständlich, sie stellen nur sich selbst dar. Auch wenn sie manchmal so aussehen, als gäbe es etwas in ihnen zu "lesen". Und mancher ließ sich von ihnen verführen, in ihnen verborgene Botschaften entziffern zu wollen.
"Hinter" den Bildern von Helmut Brandt gibt es keine Bedeutung, nur die Arbeit ihrer Hervorbringung. Man kann seine Bilder "lesen", indem man sich vorstellt, wie sie entstanden sind. Brandt erarbeitet sich seine Oberflächen mit Geduld und Leidenschaft, immer auch überrascht von dem, was sich ergibt und zeigt.
Seine Bilder entstehen aus der Schichtung von Flächen und aus der Geste des Schreibens.
Schichtung der Flächen
Die Oberfläche ist Ergebnis eines Konfliktes. Die aufgetragenen Materialien reagieren aufeinander in ihrer Verschiedenheit, sie kommunizieren miteinander in ihrer Gegensätzlichkeit. Sie haben ihren Eigensinn und produzieren nicht immer das, was man von ihnen erwartet hat. Sie sind wie störrische Kinder, die man mit Tricks und Überredung dazu bringen muss, das zu tun, was man von ihnen will.
In ihrem Versuch, einander auszulöschen, lassen die Schichten eine Textur entstehen. Die Textur entsteht aus der Fläche als das Ergebnis eines Konfliktes.
Zum Beispiel die Begegnung von Schellack und Wasser. Schellack ist ein Harz, unlöslich in Wasser, quillt aber bei Kontakt mit Wasser auf. Bringt man eine wasserlösliche Farbfläche und eine Schellackfläche zusammen, kommt es zuerst zu einer Ausdehnung und dann beim Trocknungsvorgang zu einer Schrumpfung. Dabei entstehen gänsehautähnliche Strukturen.
Die Schichtung von Oberflächen sind Prozesse, die sich überlagern, es sind erstarrte Zeitebenen. Zuerst werden die Materialien aufgetragen, reagieren miteinander, kommen als Oberfläche zur Ruhe. Sie schichten sich aufeinander und verbrauchen dabei Zeit. Irgendwann kehrt sich der Prozess um, die Schichten werden wieder geöffnet, man geht zurück in die Tiefe der vergangenen Zeit. Zuerst hat man die Schichten aufgetragen, dann trägt man sie wieder teilweise ab, durch Abreiben, Schaben, Auskratzen. Mit jedem Bild schafft sich Helmut Brandt ein eigenes archäologisches Ausgrabungsfeld. Allerdings weiß er, was sich in der Tiefe befindet, denn er hat es selber zugedeckt. Eine Oberfläche verdeckt eine andere, indem man die eine aufkratzt, bringt man die andere zum Vorschein.
Geste des Schreibens
Eine Fläche wird beschrieben mit Zeichen, die wie eine Schrift aussehen. Man ist versucht, sie zu entziffern, in ihnen eine Botschaft zu finden. Aber es gibt sie nicht. Es gibt nur die Geste des Schreibens und die Streuung leerer Zeichen.
Die schreibende Hand schwebt über der Fläche, - vielleicht so wie es Walter Benjamin beschrieben hat: "Die schreibende Hand hängt im Gerüst der Linien wie ein Athlet im schwindelnden Gestänge der Arena." Beim Schreiben überschreitet man eine Schwelle, man überwindet eine Angst. Man geht auf eine Reise, die von einem Raum Abschied nimmt und sich nur noch in der Fläche bewegt.
Das Gelingende liegt in der Bewegung des Schreibens. Es geht nicht darum, einen Sinn zu transportieren, sondern nur um die Bewegung des Schreibens selbst. Die Bewegung des Schreibens gelingt, wenn man bei sich selbst ist.
Faszination des Verschwindens
Schreiben ist Vernichtung dessen, worüber man schreibt, schreibend verbraucht man das Erlebte, das Erlittene. Helmut Brandt geht weiter und verbraucht auch das Geschriebene. Sein Traum ist es, alles Geschriebene zum Verschwinden zu bringen.
Schrift ist als Träger von Bedeutung Träger von Macht. Schreiben ist eine aneignende, imperiale Geste. Mit dem Zerfall der Zeichen zerfällt die Macht.
Helmut Brandt ist fasziniert von Prozessen der Zerstörung von Schrift. Zum Beispiel durch Tintenfraß. Tintenfraß ist die Zersetzung des Papiers durch die getrocknete Tinte, die sich mit Inhaltsstoffen der Luft verbindet. Übrig bleiben verstümmelte Zeichen, die sich nicht mehr lesen lassen. Übrig bleibt eine Textur, die sich auf keine Bedeutung hin überschreiten läßt.
Letztlich geht es in allen seinen Bildern darum, Schrift oder Zeichen in eine Fläche hinein verschwinden zu lassen.
Zum Beispiel bleibt das Geschriebene unter einer Oberfläche verborgen oder es wird zerkratzt, in Löcher aufgelöst, ausradiert, durchgestrichen, überschrieben, übermalt, ausgeblichen, ausgewaschen oder sonstwie vernichtet.
Zwei Phasen gibt es in der Entstehung des Werks: Zunächst wird ein Text geschrieben und dann wird er zerstört. Wobei der Prozess der Zerstörung der wichtigere ist, mit mehr Leidenschaft besetzt. Helmut Brandt schreibt Texte nur, um sie zum Verschwinden bringen zu können.
Wahrscheinlich ist es nicht nur der Text, der verschwinden soll, sondern auch das schreibende Subjekt, das sich im Schreiben auflösen soll wie eine Spinne in ihrem eigenen Netz, ähnlich wie in diesem Bild von Roland Barthes (Die Lust am Text, 94):
"Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe - dieser Textur - verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge. Wenn wir Freude an Neologismen hätten, können wir die Texttheorie als eine Hyphologie definieren (hyphos ist das Gewebe und das Spinnennetz)."